Unterwegssein gehört für Musikerinnen und Musiker zum Beruf. Einerseits kommen sie physisch oft weit herum, andererseits bewegen sie sich zwischen Repertoires, Stilen, Ensembles und von einem künstlerischen Ziel zum nächsten.
Schweizer Musikzeitung, Dezember 2021, S. 16
Schildern Sie und bitte Ihren Lebensweg, insbesondere die Ortswechsel
Aufgewachsen am Fuss der Glarner Alpen, von den Beatles und Bob Dylan musikalisch sozialisiert und von den Gitarrenklängen Santanas und McLaughlins elektrisiert, lockte mich der Ruf der Ferne schon früh: Als Sechzehnjähriger reiste ich zusammen mit meiner Schwester sechs Wochen per Greyhound quer durch die USA. Zwei Jahre später lebte ich als Austauschschüler ein Jahr in Minnesota, wo Dylan seine Jugend verbracht hatte. An der dortigen High School war die Musik fest im Curriculum verankert und ich durfte als Gitarrist der High School Jazz Band meine ersten Erfahrungen mit dieser grossartigen Musik machen.
Unmittelbar nach der Matura lebte ich während zwei Jahren in Lissabon. Dort verbrachte ich meine Tage am liebsten im Hot Club de Jazz, der zur selben Zeit auch Heimat von jungen portugiesischen Musikern wie etwa der grossartigen Sängerin Maria Joao war. Zurückgekehrt in die Schweiz, studierte ich an der Universität Zürich Geschichte und Englisch und besuchte nebenbei die Swiss Jazz School in Bern. In den Neunzigern tourte ich zusammen mit dem späteren Züri West-Gitarristen Tom Etter und der Folk-Pop-Gruppe Starfish durch Nord- und Osteuropa und die Schweiz. Anfänglich machten wir Strassenmusik, später kamen Bühnen- und Festivalauftritte dazu.
Die Suche nach neuen Herausforderungen war die treibende Kraft, die mich vor gut zwanzig Jahren nach Boston brachte. Am Berklee College of Music konnte ich mich eine Zeit lang vollends dem Jazz widmen und erlangte schliesslich ein Musikdiplom. Nach vier Jahren an der amerikanischen Ostküste kehrte ich zurück in die Schweiz. Ich liess mich in Glarus, später in Luzern nieder und zog schliesslich wieder fort, diesmal in die Weiten Chinas. In der Grossstadt Peking, deren Anonymität mich faszinierte, fand ich meine temporäre Heimat. Ab 2010 war ich Mitglied der Big John Blues Band, der Hausband des legendären CD Blues Cafés, und als Dozent an der Beijing Midi School of Music tätig. Bis 2017 folgten Tourneen und Konzerte mit chinesischen und internationalen Musikern, die ich auf ihren Auftritten in den Metropolen Shanghai oder Peking und bis in die Steppen der Inneren Mongolei oder die Wüste in Ningxia begleiten durfte. Ein unvergessliches Highlight war im Juni 2013 die von Lang Lang mitorganisierte ‘Grammy All Stars Night’ in Chengdus ausverkauftem Olympiastadion: "12 very diverse artists. GREAT international band. 48’000 people sitting in the pouring rain - a wonderful show! Lots of speeches, toasting, superlatives, and laughter." (Rodney Crowell)
Mit Fünfundfünfzig fand ich es an der Zeit, meinen ökologischen Fussabdruck nicht noch weiter zu vergrössern und etwas kürzer zu treten. Seither konzentrierte ich mich beruflich hauptsächlich auf meine Unterrichtstätigkeit an der Musikschule der Stadt Luzern, getreu George Harrisons Song ‘The Inner Light’, dessen Text auf einem Vers aus dem Daodejing basiert:
Without going out of my door
I can know all things of earth
Without looking out of my window
I could know the ways of heaven
The farther one travels
The less one knows
The less one really knows
Was bedeutet Unterwegssein für Sie? Wie fühlen Sie sich dabei?
Wegziehen, sich niederlassen, die Zelte wieder abbrechen und weiterziehen. Ein Rhythmus, der in meinem Leben schon oft den Takt angegeben hat. „Highways and dancehalls – a good song takes you far”, steht seit rund zwanzig Jahren als Motto auf meiner Homepage geschrieben. Gerade in den vergangenen beiden Jahren wurde mir bewusst, wie bedeutsam das Unterwegs-Sein für mich immer gewesen ist. Reisen haben mich stets beflügelt und inspiriert. Die meisten meiner eigenen Kompositionen sind unterwegs entstanden. Auf Reisen sind die Sinne geschärft: Jeder neue Geruch und Klang will wahrgenommen und gespeichert sein. Der Intellekt ist wacher. Das Nomadentum lässt grüssen. Auf Reisen fühle ich mich auch meinem Vater näher, der in seinem Leben über 160 Länder bereiste.
Wo fühlen Sie sich daheim?
Fast überall und nirgends. Es fiel mir immer leicht, mich an einem neuen Ort einzuleben und wohlzufühlen. In Boston wurde mir der klassizistische Lesesaal der Public Library zum Ort, wo ich mich daheim fühlte und beim Schein der grünen Lampenschirme ein historisches Buch über den Jazz in meiner Herkunftsregion schrieb. Aus der Distanz schreiben sich Rekonstruktionen leichter. In Peking war es eine müde Lounge Bar im Sanlitunquartier, in der ich allnachmittäglich meine Gedanken und Eindrücke in den Laptop tippte.
Für mich spielte es nie eine grosse Rolle, wo ich meine Musik spielte. Ob im Riesenstadion in Chengdu, auf dem Markplatz in Krakau oder mit SchülerInnen auf der Treibhausbühne in Luzern: Musik zu erfahren, in der Gruppe zu spielen - es ist das Erlebnis, welches zählt. Harmonisch ausgedrückt ist es für mich vergleichbar mit einem von oben arpeggierten Bbmaj7#11-Akkord: Ruhend, aber mit einem gewissen Schillern drin. That’s home!
Wie haben Ihre Reisen Ihre Musik beeinflusst?
Sehr stark. Meine eigene Musik bewegt sich auf dem weiten Feld irgendwo zwischen Folk, Pop und Jazz. Meine eigenen Kompositionen, die ich seit 2003 mit meiner international besetzten Jazzgruppe Travelogue auf mehreren Alben veröffentlichte, sind fast alle im Ausland oder auf Auslandreisen entstanden. Für die Muse brauche ich Musse und Inspiration, die an ‘fremden’ Orten für mich viel einfacher zu finden sind. Auch wurden viele meiner wichtigsten Musikerbekanntschaften auf Reisen geformt und gefestigt.
Wohin soll es noch gehen?
Ich denke, dass ich in den nächsten Jahren nicht mehr so weit reisen werde. Gerne würde ich aber in einem Wohnwagen gemächlich durch Südeuropa reisen. Heute hier, morgen dort. Mit anderen Nomaden zusammen Musik machen…
Sehr gerne würde ich auch einmal die Route 66, die ursprünglich von Chicago bis nach Santa Monica führte, auskundschaften respektive das, was von ihr übrig geblieben ist. Und später einen guten Freund in Buenos Aires besuchen, der dort ein Musikrestaurant betreibt.
Ein besonderes Reiseerlebnis?
Im Sommer 2004 wurde unser Band Travelogue anlässlich unserer ersten sechswöchigen Nordchinatournee von Daqing per Privatbus in ein Touristencenter nahe der russischen Grenze gefahren. Die Reise dauerte 7 Stunden. Dabei beeindruckte uns die Vielfalt der nordchinesischen Landschaft und die Emsigkeit, mit der überall gearbeitet wurde - meist von Hand und bei Temperaturen von bis zu 38 Grad. Ein Resort Besitzer in Tie Li Shi hatte uns mit einem Beitrag an unsere Flugtickets unterstützt. Als Gegenleistung wollten wir für seine Gäste ein Konzert geben. Als wir am späteren Nachmittag eintrafen, befanden sich dort nur wenige Leute und wir nahmen an, dass wir nach den grossen Konzerten der vergangenen zwei Wochen einen entspannten Gig vor einem kleinen privaten Publikum spielen würden. Wir stellten unsere kleine Anlage auf der Veranda auf und harrten der Dinge.
Nach und nach fuhren rund ein Dutzend vollbesetzter Cars vor, aus denen mindestens fünfhundert Gäste ausstiegen; alle in überschäumender Festlaune. Unsere ruhigeren Nummern packten wir gleich wieder ein. Der Anlass begann beim Eindunkeln mit einem Feuerwerk. Unser Konzert wurde von einer chinesischen Volksmusiksängerin umrahmt: Pentatonik in Sopranlage! Das Interesse an uns war riesig: Filmkameras liefen, Fotos wurden geknippst, alle wollten uns und unsere Instrumente anfassen, so dass uns der Veranstalter bald in ein ruhiges Nebengebäude rettete. Hier wurden wir bei ausgelassener, warmherziger Stimmung von unseren Gastgebern und einigen Dorfschönheiten kulinarisch verwöhnt. Offenbar hatten sie alle an diesem Abend zum ersten Mal live gespielten, modernen Jazz gehört!